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Der diya-Diskurs in Muslimischen Rechtstraditionen – Kontinuität und Wandel: Tribalität vs. Islamität


DAVO 2008 – ERFURT – FREITAG, 3. OKTOBER 2008
 


Eröffnung:
Das Islamische Recht machte sich viele der altarabischen vorislamischen Rechtsbegriffe zu Eigen; jedoch ist nicht zu verallgemeinern, dass das islamische Recht aus den altarabischen vorislamischen Rechtspraktiken entsprang bzw. durch sie inspiriert wurde; daher ist eine gründliche Prüfung für jeden einzelnen Fall erforderlich (Schacht, Introduction: 1964).
In meinem Paper will ich einen dieser einzelnen Fälle prüfen oder besser gesagt darauf aufmerksam machen und zwar den Fall der diya.
Diya ist eine Art materielle Entschädigung, die bei Tötungsdelikten und Körperverletzungsdelikten an den Geschädigten oder seine Angehörigen entrichtet wird. Daher nennt man sie auf Deutsch Blutgeld. Die Summe der Entschädigung also der diya sollte dem hervorgerufenen Schaden entsprechen. Mit der Entrichtung der diya wird ein körperlicher Ausgleich (Ar. qaud) im Sinne von Wiedervergeltung bzw. im Sinne von Auge um Auge, unzulässig.
Das Konzept des Ausgleichs durch diya oder qaud ist sehr alt und kehrt mit seinen institutionellen Wurzeln zu den tribalen Rechtspraktiken der Altaraber vor dem Islam zurück. Die Anwendung eines solchen Konzepts war wie Tyan in der EI erklärt mit der tribalen Form der sozialen Organisation eng verbunden:
„The historical origin of the institution lies in pre-Islamic customary practice, where it was closely bound up with the social organization of Arabia. This rested upon a tribal basis, with the absence of any political authority, even within the individual tribe, and a system of private justice tempered to some extent by the practice of voluntary submission to arbitration.”

Die Fragestellung:
Diese behaupteten Wurzeln des diya-Konzepts sind meines Wissens weder unter westlichen Islamwissenschaftlern noch unter muslimischen Gelehrten umstritten. Daher ist meines Erachtens eine gründliche Prüfung seiner vorislamischen Ursprünge nicht dringlich.
Allerdings motiviert mich diese Annahme, die Frage zu stellen, wie viel Tribalität sich der Islam bei der Adoption dieses Rechtsvollstreckungsmechanismus erlaubte?
Die Tribalität ist in diesem Zusammenhang mit der Frage der Haftung strukturell verbunden.
Andererseits ist die diya-qaud-Praxis in dem Rechtssystem moderner arabischer Stämme als der Hauptmechanismus der Rechtsvollstreckung etabliert. Jedoch verkörpert ihre diya-qaud-Praxis heute nach wie vor ein Konzept des Ausgleichs und nicht der Bestrafung und zwar bei der Anwendung beider Mechanismen: diya oder qaud. Im islamischen Recht wurden beide Mechanismen mit einem religiösen Konzept der Sühne verknüpft. Dabei handelt es sich nicht um Täter-Opfer-Versöhnung, sondern um Täter-Gott-Sühnung. In diesem Bezug ist eine Verschiebung der praktizierten Normen des gleichnamigen Konzepts in beiden Rechtssystemen fest zu stellen. Hier ist die Frage der Tribalität rechtskulturell zu verstehen. Und die Leitfrage wiederholt sich, wie viel Tribalität sich der Islam bei der Adoption dieses Rechtsvollstreckungsmechanismus erlaubte?


Eine Diskursüberlieferung:
In seinem Kommentar zu den Koranversen 2, 178 und 5, 45 zitiert Ibn-Kaṯīr Äußerungen verschiedener früherer Rechtsgelehrter, welche aus verschiedenen Epochen und Regionen stammten. Er debattiert dabei um die Frage, wie das Korankonzept der Talion „Auge um Auge“ im Islam verstanden werden kann oder verstanden wurde bzw. eingesetzt werden kann oder bereits eingesetzt wurde. Diese Debatte überliefert uns eine historische Darstellung der Entwicklung des muslimischen Diskurses im Bezug auf das diya-qaud-Konzept.
Ich werde mich heute aufgrund der Zeitknappheit mit begrenzten aber signifikanten Ansätzen aus dieser Debatte begnügen müssen.
Der Vers 2, 178:
„Ihr Gläubigen! Bei Totschlag ist euch die Wiedervergeltung vorgeschrieben: ein Freier für einen Freien, ein Sklave für einen Sklaven und ein weibliches Wesen für ein weibliches Wesen.“
Der Vers fördert in seinem Wortlaut zweifellos das altarabische Konzept des Ausgleichs, in dem die Tötung einer Frau zum Beispiel durch die Tötung einer anderen Frau aus den Reihen des Täters ausgeglichen wurde, auch wenn der tatsächliche Täter keine Frau war. Das gleiche galt für Sklaven und freie Männer. Nach dem Vers hat nur eine Frau das Äquivalent einer Frau und nur ein Sklave könnte den gleichen Wert eines Sklaven ersetzen usw. So ein Konzept konnte nur im Kontext der Wahrnehmung kollektiver Haftung gesellschaftlich akzeptiert werden. Dies ist der Fall innerhalb der Tribalität, wo sich Egalität und Klassengesellschaft vereinigen. Nur freie Männer mit reiner genealogischer Abstammung, welche kampffähig sind, genießen einen vollen Rechtstatus binnen tribaler Gesellschaft ihrer Abstammung. Frauen, Sklaven, Kinder und Fremdlinge gehören aber anderen Rechtskategorien an. Bei transtribalen Konflikten hatte aber die Idee der Klassenäquivalente nicht unbedingt die erforderliche Geltung, wie Ibn-Kaṯīr in seiner Exegese als Offenbarungsgrund dieses Verses erläutert.
Er autorisiert seine Auslegung mit einer Überlieferung unter Berufung auf Saʿīd b. Ǧubair. Nach der Überlieferung verlangte einer der Stämme als Ausgleich für seine getöteten Frauen und Sklaven die Hinrichtung freier Männer des gegnerischen Stammes. Aufgrund dieses Ereignisses wurde dieser Vers laut der Überlieferung von Ibn Ǧubair offenbart, um solche regelwidrigen Handlungen zu unterbinden. Dies bedeutet, dass die regelgerechte Handlung laut dem Vers wäre Mann um Mann, Frau um Frau und Sklave um Sklaven.
Diese Auslegung stört aber eine Reihe islamischer Rechtsprinzipien bzw. Ideale. Erstens unterscheidet das islamische Recht zwischen Schuld und Haftung. Schuld ist individuell. Haftung ist aber kollektiv. Zweitens stellt der Islam alle Menschen als gleichwertig dar, auch wenn rechtlich eine klassenhafte Unterscheidung zwischen Mann, Frau und Sklaven weiter praktiziert wurde. Drittens verbindet der Islam das diya-qaud-Konzept mit der religiös erforderlichen Buße. Diese waren islamische Rechtsvorstellungen zurzeit von Ibn Kaṯīr. Es ist daher kein Wunder, dass er die Überlieferung von Ǧubair mit der aufklärenden Aussage beendet, dass der Vers 2, 178 durch 5, 45 abrogiert wurde. Im Vers 5, 45 heißt es „Leben um Leben“ ohne Unterschied zwischen Mann, Sklaven und Frau. Ibn Kaṯīr bestätigt die Abrogation des Verses mit einer Überlieferung von Ibn ʿAbbās. Nach ihm war eine gebräuchliche Praxis, dass „sie“ keinen Mann im Ausgleich für die Tötung einer Frau töteten, sondern eine Frau. Dies wurde mit der Offenbarung des Verses 5, 45 Leben um Leben unterbunden so Ibn ʿAbbās.
Der Vers 5, 45:
„Wir haben ihnen darin (d.h. in der Thora) vorgeschrieben: Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn, und Verwundungen (ebenso. In allen Fällen ist) Wiedervergeltung (vorgeschrieben). Wenn aber einer Almosen damit gibt (indem er auf die Ausübung der Wiedervergeltung verzichtet), dann sei ihm das eine Sühne (für Vergehen, die er sich hat zuschulden kommen lassen)! „
In diesem Vers wird die Gleichstellung aller Menschen vorgeschrieben. Gleichzeitig gewinnt das diya-qaud-Konzept eine religiöse Dimension durch seine Verknüpfung mit der religiösen Buße.
In seinem Kommentar stellt Ibn Kaṯīr die Normativität dieses Verses in Frage, da es sich dabei um eine vorislamische biblische Reglung handelt. Er endet seine Debatte mit der Ansicht von Abū Naṣr b. aṣ-Ṣabbāġ, dass alle Rechtsgelehrten diesen Vers im Kontext seiner Auslegung als normativ für Muslime betrachten. Daher ist die Vollstreckung von körperlichen Vergeltungen auf den Täter unabhängig von seinem Geschlecht und Freiheitsstatus erlaubt und erforderlich. Dies ist die Meinung von u. a. aṣ-Ṣabbāġ, Abū Ḥanīfa und Aḥmad.
Dessen ungeachtet zitiert er mehrere Rechtsmeinungen verschiedener Gelehrter, die nicht einfach mit der Gleichstellungsidee zu vereinbaren sind. Es scheint dabei, dass weder Konsensus für die Abrogation des Verses 2, 178 durch 5, 45 noch eine allgemeine Akzeptanz der rechtlichen Gleichstellung aller Menschen unter den Rechtsgelehrten herrschte. Sie stellten die Frage, wenn die diya der Frau und des Sklaven die Hälfte der diya eines freien Mannes sei, wie könnte man dann die Durchführung des qaud über einen Mann für die Tötung einer Frau oder eines Sklaven verlangen. Diese Ablehnung der Gleichstellung reflektiert meiner Ansicht nach eine gesellschaftliche Haltung und einen öffentlichen Diskurs, welche auf das vorislamische Erbe der Klassengesellschaft nicht verzichten wollten. Die ablehnende Fraktion (Šafiʿīten/Ḥanbalīten) rüstete sich mit Hadithen, welche Ibn Kaṯīr – ohne sie zu zitieren – als anstößig bzw. nicht authentisch bezeichnete.
Schlusswort:
Die Verse 2, 178 und 5, 45 stellen an sich und in ihrer Auslegung demonstrativ vier Aspekte der Wandlung islamischer Rechtsnormen dar. Erstens die Adoption vorislamischer altarabischer tribaler Normen. Zweitens die Ersetzung dieser adoptierten Normen durch biblische Normen. Drittens die Verschiebung des Rechtsgrunds vom Ausgleich zur Buße. Viertens die Wandlung der offenbarten Rechtsnormen auf der Suche nach einer reinen islamischen Form bei der Formung des islamischen Rechts zwischen den 2. und 4. Jahrhunderten.
Gleichzeitig spiegelt die Meinungsverschiedenheit der Rechtsgelehrten um die normativen Werte beider Verse und um die Frage der Gleichstellung die innere Spannung einer Gesellschaft wieder, die auf der Suche nach einer eigenen Identität zwischen erblicher Tribalität und innovativer Islamität steht.

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